P. Eigenmann: Migration macht Schule

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Titel
Migration macht Schule. Bildung und Berufsqualifikation von und für Italienerinnen und Italiener in Zürich, 1960–1980


Autor(en)
Eigenmann, Philipp
Erschienen
Zürich 2017: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
324 S.
Preis
€ 43,00
von
Kijan Espahangizi, Zentrum Geschichte des Wissens

Im April 2017 verstarb mit Leonardo Zanier einer der zentralen Figuren migrantischer Bildungsarbeit in der Schweiz. Als Mitglied der italienischen Emigrantenorganisation Federazione delle Colonie Libere Italiane in Svizzera (FCLIS) prägte er nicht nur deren Bildungsarbeit seit den 1960er Jahren massgeblich mit. Er setzte sich darüber hinaus in unterschiedlichsten Kontexten mit grossem Engagement für die Integration italienischer Einwanderer und die Förderung demokratischer Teilhabe in der Schweiz ein. Dass Zaniers Tod den grossen Schweizer Medien keine Notiz Wert war, unterstreicht die Relevanz der Dissertation, die Philipp Eigenmann am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Zürich 2016 vorgelegt und 2017 in überarbeiteter Form publiziert hat.

Der Autor setzt sich in seiner Studie, die er zwischen historischer Bildungs- und Migrationsforschung verortet, mit der Vielfalt an Bildungsangeboten auseinander, die italienische Emigrantenorganisationen seit den 1960er Jahren in der Schweiz entwickelten: berufliche Qualifizierung, Sprachkurse, allgemeine Erwachsenen- und Gewerkschaftsbildung, Informationsangebote für Eltern, ausserschulische Betreuung, psychologische Unterstützung und «Kurse in heimatlicher Sprache und Kultur» für italienische Kinder. Mit Elternkomitees und anderen Partizipationsangeboten versuchten die Emigrantenorganisationen zudem gesellschaftliche Partizipation zu fördern, obwohl ihnen politische Mitsprache verwehrt war.

Dabei werden die Migranten nicht einfach als Objekte pädagogischer beziehungsweise staatlicher Zugriffe verstanden. Im Sinne des state of the art der historischen Migrationsforschung nimmt Eigenmann Emigrantenorganisationen vielmehr als «eigensinnige» Akteure in gesellschaftlichen Aushandlungs- und Demokratisierungsprozessen in den Blick und er situiert sie im transnationalen Spannungsfeld von Arbeitsmigration nach dem Zweiten Weltkrieg, Bildungsexpansion ab den 1960er Jahren und staatlichem Handeln.1 Die Studie konzentriert sich dabei auf die drei grossen Akteure: die Ente Nazionale ACLI Istruzione Professionale (ENAIP), die eng mit der Assoziation christlicher Arbeiter und der katholischen Mission verbunden war, die daraus hervorgegangene Scuola Profes- sionale Emigrati (SPE) sowie die der FLCIS nahestehende linksgerichtete Ente Confederale Addestramento Professionale (ECAP). Dank der guten Dokumentation in den Organisationsarchiven kann der konzeptuelle Anspruch empirisch umgesetzt werden, mit einem lokalen Fokus auf Zürich.

Die Arbeit besteht aus zwei Hauptteilen: Die Kapitel 2 bis 4 setzen sich mit der Entwicklung, Etablierung und Diversifizierung von Angeboten der Berufsqualifizierung und Erwachsenenbildung sowie bildungs- und gewerkschaftspolitischen Initiativen auseinander. Das Verhältnis der drei untersuchten Organisationen oszillierte dabei zwischen Kooperation und Konkurrenz. Die Kapitel 5 bis 7 richten den Fokus auf Bildungsangebote für die Kinder der italienischen Arbeitskräfte, die insbesondere auf lokaler Ebene verankert werden konnten. Das Abkommen zwischen Italien und der Schweiz von 1964 markierte hier einen zentralen Wendepunkt. Fortan bewegte sich die migrantische Bil- dungsarbeit in der Schweiz zunehmend im Spannungsfeld der «zwei Zukünfte»: baldige Rückkehr oder permanente Niederlassung. Katholische und linksgerichtete Akteure posi- tionierten sich im «Kalten Schulkrieg» hierbei durchaus unterschiedlich. Am Beispiel der ECAP verdeutlicht Eigenmann zudem den Spagat, der notwendig war, um sowohl den italienischen als auch deutschsprachigen Bezugskontext programmatisch anzusprechen: in dem Fall mit Klassenkampf-Rhetorik einerseits und einem Diskurs der Chancengleichheit andererseits.

Eigenmanns Studie leistet einen bedeutsamen Beitrag zur Schweizer Migrations- und Bildungsgeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Darstellung wurde in wohltuender Weise nicht als Geschichte der erfolgreichen/gescheiterten Integration einer Einwanderergruppe aufgegleist, ebenso wenig wird die Bildungsarbeit als migrantischer Kampf gegen die diskriminierende Dominanzgesellschaft oder als diasporische Überwindung des Nationalstaats überhöht. Dem Autor gelingt es insbesondere, die soziale, kulturelle und politische Heterogenität der involvierten Akteure und Interessen darzustellen, die sonst allzu häufig durch die ethnische Brille aus dem Blick gerät. Man würde sich definitiv mehr solch kluge Fallstudien wünschen. Gleichwohl hätte die Studie gewonnen, wenn sie stärker in die Textur der Schweizer Geschichte eingewoben worden wäre, etwa durch eine parallele Studie zu «nicht-migrantischer» Bildungsarbeit. Durch den exklusiven Fokus auf Emigrantenorganisationen wird nolens volens eine «migrantologische» Perspektive reproduziert,2 die Migration auf ein Thema «der Anderen» reduziert und so aus der eigentlichen Geschichte der Schweiz herausverlagert. Symptomatisch ist die durchgehende Kategorisierung der Akteure als «Migranten» – ein Begriff, der, wie die Studie aufzeigt, an deren Selbstverständnis vorbeigeht. Im Schlusswort deutet der Autor die Möglichkeit an, dieser grundsätzlichen Herausforderung durch eine (Selbst)Historisierung der Migrationsforschung zu begegnen.3 Dazu hätte die Studie jedoch den Kreis zur Genealogie der interkulturellen Pädagogik schliessen müssen, anstatt bei einer «Vor- geschichte» stehen zu bleiben. Alles in allem hat Eigenmann einen wichtigen Beitrag zur Geschichte migrantischer Bildungsarbeit vorgelegt, der zudem das Erbe prägender Figuren wie Leonardo Zanier angemessen kritisch würdigt

1 Damir Skenderovic, Vom Gegenstand zum Akteur. Perspektivenwechsel in der Migrationsgeschichte der Schweiz, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 65/1 (2015), S. 1–14.
2 Manuela Bojadzijev und Regina Römhild, Was kommt nach dem «transnational turn»? Perspektiven für eine kritische Migrationsforschung, in: Labor Migration (Hg.), Vom Rand ins Zentrum. Perspektiven einer kritischen Migrationsforschung, Berlin 2014, S. 10–24.
3 Janine Dahinden, A Plea for the «De-Migranticization» of Research on Migration and Integration, in: Ethnic and Racial Studies 39/13 (2016), S. 1–19.

Zitierweise:
Kijan Espahangizi: Rezension zu: Philipp Eigenmann: Migration macht Schule. Bildung und Berufsqualifikation von und für Italienerinnen und Italiener in Zürich, 1960–1980, Zürich: Chronos-Verlag, 2017. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 2, 2018, S. 425-427.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 2, 2018, S. 425-427.

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